Dunkle Nächte in Anatolien
Es ist Anfang Oktober, als ich schließlich in Istanbul
ankomme. Es war eine lustige Fahrt mit dem Magic-Bus von Athen zum Bosporus.
Kaum dort angekommen habe ich nur zwei Tage später bereits die nächste
Herzensflamme eingefangen. Diesmal ist es eine kleine süße Französin. Oh, ich
bin hin und weg von ihr. Wir lassen es gleich am ersten Tag richtig krachen. Am
Nachmittag gehen wir in mein Hotel und fallen gleich übereinander her. Meine
kleine Französin hat die lautmalerische Eigenheit, beim Sex wie ein kleines
Schweinchen zu quietschen. Ziemlich laut und wie eins, dem man gleich ans Leder
will. Wir sind schon eine Weile zugange, als sich auf einmal die Tür öffnet und
der Hotelmanager seinen Kopf durch den Türspalt steckt. „Sir, we are a
Family-Hotel here, please!“, sagt er, offensichtlich peinlich berührt. Schnell
ziehe ich eine Decke über uns, schau ihn durch meine verschwitzten Haare an und
antworte ihm: „Yes Sir, that´s exactly what we are trying to do. If you please
don´t disturb us any longer?“
Völlig verdattert, mit rotem Kopf, schließt er die Tür
und trollt sich.
Wir wechseln am nächsten Tag zusammen in ein anderes
Hotel. Dort lernen wir ein Pärchen aus Holland kennen, das ebenfalls auf dem Weg
nach Indien ist. Sie haben ein Angebot für eine bezahlte Autoüberführung nach
Teheran bekommen. Eigentlich hatten sie aber andere Pläne. Sie wollten durch das
Schwarze Meer, bis nach Trabzon mit dem Schiff fahren. Zwei Kabinentickets haben
sie schon gebucht. Die wollen sie nun zum halben Preis loswerden. Na, da bin ich
doch sofort dabei. Eine gemütliche Reise für zwei Tage, in einer Schiffskabine,
ist einem alten Rüttelbus allemal vorzuziehen.
Es ist eine sehr schöne, ruhige Fahrt. Die Kabine ist
recht geräumig, es gibt insgesamt vier Kojen. Zum Mittag gehen wir in die
Cafeteria, dort lernen wir ein junges Pärchen aus Deutschland kennen. Sie
kampieren auf dem Deck, eine Kabine können sie sich nicht leisten. Veronique
bietet ihnen an, bei uns in der Kabine zu schlafen. Das ist zwar unserer
Privatsphäre nicht zuträglich, doch daran verschwendet sie wohl keinen Gedanken.
Ohnehin macht meine Geliebte einen etwas abgekühlten Eindruck. Woher dieser
plötzliche Sinneswandel kommt, kann ich mir nicht so recht erklären.
Wir machen Zwischenstation in Samsun. Das ist ein
wunderschöner, malerischer Ort, er wirkt fast schon mittelalterlich auf mich.
Die fein säuberlich getrennten Bereiche der einzelnen Gewerke, wie Eisen- und
Kupferschmiede, Sattler, Tischler oder Töpfer, faszinieren mich. Ich habe schon
als kleiner Junge gerne Handwerkern bei der Arbeit zugesehen. Hier wirkt das
alles noch viel ursprünglicher. Schon deshalb, weil viel mehr mit den Händen
gearbeitet wird, nur wenige einfache Maschinen kommen hier zum Einsatz. Nur
ungern löse ich mich von dieser faszinierenden Atmosphäre. Das Schiff fährt bald
weiter, ich muss zurück zur Anlegestelle. Die Weiterfahrt nach Samsung dauert
nicht mehr lange. Im Hafen dort treffen wir auf zwei junge Dänen. Die sind mit
ihrem VW-Bus auf dem Weg nach Indien, haben nur wenig Geld und sammeln unterwegs
immer wieder zahlungswillige Fahrgäste auf. Ich will als nächste Etappe von
Trabzon nach Erzurum und dann weiter an den iranischen Grenzübergang fahren. Von
dort, weiter nach Teheran. Bis dort wollen sie uns mitnehmen.
Was wohl keiner von uns wusste, ist, dass wir einen ziemlich miesen Gebirgspass
überqueren müssen. Mies schon deswegen, weil die „Straßen“ dort, in einem
erbärmlichen Zustand sind. Es gibt weder im Iran, noch in der Ost-Türkei, ein
ausgebautes Schienennetz, daher läuft der gesamte Frachtverkehr über die Straße.
Riesengroße Lkw-Reifen zerfurchen die ohnehin schon schlechten, aufgeweichten
Straßen noch weiter. Bis nur noch halbmetertiefe Spurrinnen bleiben. Auf denen
fährt man dann fast wie auf Schienen, wenn man nicht das Pech hat aufzusitzen.
Haben wir aber. Beziehungsweise nicht wir mit unserem VW-Bus, sondern mit
unserem Anhang. Unsere dänischen Freunde Chris und Elmar, haben nämlich noch
einen Landsmann im Schlepptau. Der dritte Däne im Bunde Alex, hatte die
scheinbar geniale Idee, einen riesengroßen, amerikanischen Straßenkreuzer nach
Teheran zu bringen und dort für viel Geld zu verkaufen. Die stehen total auf
solche Schlitten und zahlen viel Geld dafür, erklärt er uns. Mag ja sein, aber
ohne Auspuffanlage, werden sie ihn vielleicht nicht ganz so gerne mögen, denke
ich bei mir. Die hat er sich nämlich komplett, von vorne bis hinten, in den
Spurrillen abgerissen. Amerikanische Autos werden für amerikanische Highways
gebaut, nicht für die Ost-Türkei. Zumindest, wissen wir ab da immer, ob er
hinter uns ist, man kann ihn wahrscheinlich kilometerweit hören.
Obwohl es noch nicht besonders spät am Nachmittag ist,
wird es schon dunkel und der Himmel ist wie zugezogen, dunkelgrau. Es dauert
auch gar nicht lange, da fallen schon die ersten Schneeflocken. Große Flocken,
langsam und träge torkeln sie auf die Landschaft. Innerhalb kurzer Zeit, wird
das leise Rieseln zu einem richtig heftigen Schneetreiben, sodass man kaum noch
die Fahrbahn erkennen kann. Jetzt helfen die tiefen Spurrillen, nicht von der
Straße abzukommen. Die geht seitlich, ohne Leitplanke, steil bergab. Nachdem wir
uns eine Zeit so langsam vorwärts tasten, tauchen auf einmal Gestalten in dem
Schneetreiben vor uns auf. Sie bedeuten uns anzuhalten. Es sieht so aus, als
tragen sie Gewehre. Oho, was geht hier ab? Sie geben sich als Straßenwacht oder
Militär aus, was genau wird nicht so recht klar. Einer von ihnen spricht ein
paar Brocken Englisch. Er sagt uns, dass wir etwa 500 Meter weiter, in einer
Bucht dort, parken und warten sollen. Die Straße sei nicht sicher. Wenn das
Wetter besser wird, sollen wir mit anderen Autos zusammen im Konvoi
weiterfahren, da Räuberbanden unterwegs seien.
Aha. Ich schaue mir die Burschen an, die da draußen
vor dem Wagen stehen und bin mir nicht sicher, ob ich die Soldaten wohl von den
Räubern unterscheiden könnte. Ob es da überhaupt einen Unterschied gibt? Er
richtet seinen gierigen Blick auf die Schachtel Zigaretten, die auf dem
Armaturenbrett liegt und ich gebe sie ihm. Prompt verlangt er mehr, aber wir
sagen sorry, wir haben selbst kaum noch welche. Knurrend lässt er uns ziehen. An
der angegebenen Stelle ist tatsächlich Platz für mehrere Fahrzeuge und es stehen
auch schon einige da. Wie werden uns schnell darin einig, dass es wohl das Beste
ist, auf besseres Wetter zu warten und dann weiterzusehen. Es ist inzwischen
stockfinster geworden und die Sicht durch das Schneetreiben ist praktisch gleich
null. Wir parken also und versuchen, uns so gut es geht einzurichten. Das ist
nun sehr viel leichter gesagt als getan. Unsere beiden dänischen Welteroberer,
haben ihr Fahrzeug nur sehr minimalistisch ausgestattet. Da wurde eine
Spanplatte längst über die Radkästen montiert und eine Schaumstoffmatratze
darauf gelegt, fertig. Wir sind aber sechs erwachsene Menschen. Das dürfte
richtig schön kuschelig werden. Eine Standheizung gibt es natürlich nicht. Bei
so vielen Menschen auf so engem Raum da werden wir wenigstens nicht erfrieren.
Wir kramen unsere Vorräte zusammen, auf Camping ist keiner von uns eingerichtet,
wir wollten ja am Abend in Erzurum sein.
Verhungern müssen wir jedenfalls nicht, auch wenn
unsere Mahlzeit im Wesentlichen aus Keksen besteht. Davon haben kurioserweise,
alle recht viel dabei. Wir können sogar einen heißen Tee machen. Für den ich
viel Anerkennung einheimse, weil ich innerhalb von fünf Minuten, einen
elektrischen Tauchsieder improvisiere. Aus einem Stück Kabel, dem
Zigarettenanzünder und einer Rasierklinge. So hatten wir heißes Wasser und Tee,
das sollte uns die Nacht doch deutlich besser ertragen lassen. Dann beginnen wir
uns zu langweilen und suchen nach Liedern, die alle kennen. Nun, da sind drei
Dänen, ein Amerikaner, eine Französin und ich. Wir sind schnell damit durch,
nach „Row your boat“, „Old MacDonald has a farm“ und „Mr. Tambourine Man“, gibt
es keins mehr, dass wir alle gemeinsam kennen. Dann fangen wir an, uns Witze zu
erzählen, was oft schon durch die Übersetzung komisch ist. Nachdem uns keine
mehr einfallen, machen wir mit Rate-Geschichten weiter. Einer erzählt einen
bestimmten Vorfall und die anderen müssen die Lösung erraten. So verbringen wir
einige Stunden.
Wider erwarten, muss ich doch irgendwann eingeschlafen
sein, wie die Anderen auch. Am nächsten Morgen, als wir aufwachen, ist es hell
geworden und es schneit nicht mehr. Zwar sind die Straßen verschneit und
Schneeketten wären sicher eine feine Sache, aber so verlassen wir uns auf die
Spurrillen. Nachdem wir im weiten Umkreis den Schnee gelb gefärbt haben und noch
einen letzten heißen Tee trinken, machen wir uns wieder auf den Weg. Wir fahren
an diesem Tag rund zweihundert Kilometer, dann wird es auch schon dunkel und es
fängt wieder an zu schneien. Schließlich kommen die Lichter eines Ortes in Sicht
und wir sind alle sehr erleichtert.
Keiner von uns ist auf noch eine Nacht zu sechst im
Bus aus. Es ist nur ein sehr kleines Dorf, ein Ortsschild sehe ich nirgendwo.
Als Erstes stürmen wir ein Restaurant, na ja, nennen wir es mal so. Ein warmes
Essen lockt doch sehr, nach den Entbehrungen des letzten Tages. Wir erkundigen
uns nach einer Unterkunft und da müssen wir feststellen, dass es damit ganz
schrecklich mies aussieht. In dem Ort gibt es nur eine einzige Pension, die hat
nur sechs Zimmer und die sind alle schon belegt. Klar, bei dem Wetter will
niemand nachts unterwegs sein. Meine kleine Französin, hat sich inzwischen
unauffällig an die Seite geschoben. Sie hat einen Landsmann entdeckt und
plaudert angeregt mit ihm auf Französisch. Da ich leider des Französischen nicht
mächtig bin, kann ich ihrem Gespräch nicht folgen. Sehen kann ich recht
deutlich, dass sie sich nicht unsympathisch sind. Ich bin auf einmal komplett
abgemeldet. Es dauert nicht lange, bis sie an unseren Tisch zurückkommt, ihre
Sachen zusammenpackt und sagt: „Sorry Chérie, Mathieu hat ein Zimmer. Er ist so
lustig, und ich kann bei Ihm schlafen. Adieu, es war schön mit dir.“
Sie drückt mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange und
weg ist sie. Leicht bedeppert, kratze ich mich am Kopf, irgendwie komme ich mir
gerade ziemlich blöde vor. Die Anderen bedenken mich nur mit mitleidigen oder
verständnisvollen Blicken, sagen aber nichts. Dafür bin ich ihnen auch sehr
dankbar.
Meine kleine Französin, hat ihr Schlafplatzproblem ja
elegant gelöst, diese Option habe ich leider nicht. Wir überlegen, wie wir unser
Problem am besten lösen können. Die beiden Dänen können zu zweit bequem im Bus
schlafen, der dritte Däne und der Ami können im Cadillac schlafen, auf Vorder-
und Hintersitzen. Bleibt der schwarze Peter also bei mir hängen. Wir gehen in
den Laden nebenan, um uns mit verschiedenen Sachen einzudecken. Der Ladeninhaber
spricht sogar etwas deutsch, er hat vor ein paar Jahren in Bochum gearbeitet,
aber das Heimweh war so groß, da musste er zurück. Mir kommt die Idee, ihn zu
fragen, ob er nicht irgendwo einen Platz für mich zum Schlafen hat. Nach einigem
Zögern zeigt er mir schließlich einen kleinen Abstellraum. Das durch die Tür
fallende Licht, beleuchtet einen Stapel leerer Säcke und ein paar Kartons. Na
prima, mit meinem Schlafsack, sollte ich keine Probleme wegen der Kälte haben.
Also gut, habe ich einen Schlafplatz.
Es ist finster, als ich erwache und das erste, was ich
wahrnehme, ist ein unangenehmes Jucken. Ich versuche, mich in meiner Umgebung zu
orientieren. Es riecht unangenehm muffig, nach etwas Undefinierbarem. Inzwischen
haben sich meine Augen daran gewöhnt, selbst sparsamstes Licht zu entdecken und
ich bemerke einige schwache Lichtstrahlen, die wohl durch Mauerlücken
einsickern. Ich kann wahrnehmen, dass etwas das Eindringen von mehr Licht
verhindert und versuche es beiseitezuschieben, es gelingt, es sind wohl nur
leere Kartons. Jetzt gelangt mehr von dem fahlen weißen Licht herein und ich
kann meine enge Umgebung undeutlich betrachten. Viel sehe ich immer noch nicht,
das liegt aber auch daran, dass es nicht viel zu sehen gibt. Ich liege auf einem
Stapel alter Säcke in meinem Schlafsack eingewickelt und hab es schön warm. Es
hat sich wirklich gelohnt, viel Geld in die Anschaffung eines guten
Daunenschlafsacks zu investieren. Die kalte Luft, die ich außerhalb davon
wahrnehmen kann, lädt mich nicht dazu ein, meinen warmen Platz zu räumen. Aber
dieses Jucken macht mich irre. Was ist das nur? Ich muss mich ständig an
verschiedenen Stellen kratzen. Während ich versuche, mehr Details von meiner
Umgebung zu erfassen, wundere ich mich noch über das seltsame Muster, an der
Wand und an der Decke. Wodurch ist das wohl entstanden? Während ich noch so
sinniere, öffnet sich die Tür und mein türkischer Gastgeber guckt herein. Er
bedeutet mir aufzustehen, er öffnet gleich seinen Laden und braucht den Platz,
auf dem ich jetzt liege. Dadurch, dass sich die Tür geöffnet hat, kann ich nun
recht deutlich sehen. Das erste was ich erkenne, ist, woher das merkwürdige
Muster an Decke und Wänden stammt. Es sind Kakerlaken, in unterschiedlichen
Größen, sitzen sie einträchtig eine neben der anderen. Ich ahne schlagartig,
woher das Jucken stammt und habe es auf einmal sehr eilig, meinen mollig warmen
Schlafsack zu verlassen. Ich glaube, das sind nicht nur Kakerlaken, wenn da mal
nicht Flöhe im Spiel sind. Ich steige schnell in meine Turnschuhe, raffe meine
Tasche und den Schlafsack zusammen und flüchte nach draußen. In dem kalten,
ungemütlichen Raum mit den Leuchtstoffröhren an der Decke, herrscht bereits rege
Geschäftigkeit. Der große Samowar in der Ecke, summt schon. Dann gibt es also
wenigstens gleich mal Tee. Ein richtiger türkischer Tee am Morgen, der macht
dich wach!
Ich muss erst mal meine Klamotten ausschütteln, damit
ich nicht aus Versehen irgendwelche Schwarzfahrer transportiere. Der Schlafsack,
kommt raus in den Schnee, sollen die Viecher doch im Frost verrecken. Ein Blick
aus dem Fenster, zeigt mir, dass es draußen immer noch genauso trübselig
aussieht wie gestern. Vielleicht ist es heute sogar noch schlimmer. Der Schnee
liegt mindesten einen halben Meter hoch und der Verkehr ist komplett zum
Erliegen gekommen.
Nun sitze ich also allein hier, schaue in den grauen
Himmel und schlürfe meinen heißen türkischen Tee. Der Ladenbesitzer informiert
mich, dass statt meiner, nun der Franzose im Bus mitgefahren ist, sie sind schon
sehr früh los. Ich frage mich, wie es die Dänen geschafft haben hier
wegzukommen. Nicht ein einziges fahrendes Auto ist zu sehen. Na Klasse, dass
heißt wohl, dass ich auch heute hier nicht wegkommen werde. Das ist der
Türkei-Blues. Oh Mann, ich wünsche mir so sehr eine heiße Dusche. Ich erkundige
mich nach dem nächsten Bus. Heute fährt sicher keiner mehr. Morgen? Ein
Achselzucken und: „Inschallah!“
Ich schlafe jetzt im Zimmer, das der Franzose geräumt
hat. Der Duft von Veronique ist noch deutlich für mich wahrnehmbar.
So früh und so heftig gab es seit achtzig Jahren keinen Wintereinbruch mehr,
erzählen mir die Alten aus dem Dorf. Nach vier Tagen in diesem elenden Nest
fährt endlich ein Bus, der mich hoffentlich bis nach Erzurum bringt.
„Inschallah!“
***