Lothar
Es ist das Jahr 1964 und ich bin elf Jahre alt. Dieses
Jahr fährt die ganze Familie in den großen Ferien für drei Wochen nach Dänemark.
Es ist August und es ist ein schöner Sommer. Wir haben ein Zelt auf einem
Campingplatz aufgebaut und Luftmatratzen aufgeblasen. Das Wasser der Ostsee ist
total klar, man kann noch in einiger Entfernung vom Strand bis auf den Grund
sehen. Das macht das Angeln nach Flundern besonders einfach. Papa hat ein
Ruderboot ausgeliehen, mit dem rudern wir nur ein kleines Stück hinaus. Ein
Stein, der an einem Seil befestigt ist, wird ins Wasser geworfen, sodass wir
nicht abtreiben. In einem kleinen Laden gab es Angelsehne und Haken zu kaufen.
Wir versuchen es gleich mal mit einem Dreierhaken. Nachdem ein Bleigewicht
angeknüpft ist, werden kleine Kugeln aus Brötchenteig auf die Haken gesteckt und
ins Wasser hinabgelassen. Wir benutzen keine Angelruten, nur mit der Sehne in
der Hand, wird langsam der Haken dicht über dem Grund hin und her bewegt. Schon
kurz darauf tauchen die ersten Flundern wie Schatten auf. Sie umkreisen die
Köder, bis schließlich eine versucht, ihn zu fressen. Ein kurzer Ruck an der
Sehne - und die Flunder hängt am Haken. So geht das eine halbe Stunde, teilweise
können wir zwei Flundern auf einmal herausholen. Dann sind zwölf Fische im Eimer
und das soll uns reichen. Papa schmeißt den Grill an und wir machen uns daran
die Flundern zu putzen. Meine Schwester und Renate, meine Stiefmutter finden das
erst total ekelig, aber später schmeckt es ihnen dann doch.
Am nächsten Tag erkunde ich die Umgebung allein.
Hinter einem Hügel entdecke ich eine große Wiese, auf der steht eine Koppel und
darin ein kleines schwarzes Pony. Das interessiert mich, das will ich näher
untersuchen. Als ich mich der Koppel nähere, geht das Pony auf die
gegenüberliegende Seite, weg von mir. Ich versuche, es anzulocken. »Hallo mein
Kleiner, du musst doch keine Angst vor mir haben, ich tu dir doch nichts.« So
rede ich noch eine Weile auf das Pferdchen ein, aber es kommt nicht zu mir. Als
ich um die Koppel herumgehe, läuft es wieder auf die andere Seite. Warum hat es
nur so viel Angst? Ich gebe es erst mal auf, beschließe aber, morgen mit
irgendeiner Leckerei wiederzukommen.
Das mache ich dann auch. Ich habe heimlich einen Apfel
stibitzt, den ich in vier Teile schneide. Wieder entfernt sich das Pony von mir.
Ich rede ihm gut zu und werfe ein Stück vom Apfel zu ihm hinüber. Erst weicht es
davor zurück, dann schnuppert es aber doch daran und frisst es schließlich. Das
sehe ich schon mal als Erfolg. Das nächste Stück werfe ich nicht ganz so weit,
mehr in die Mitte der Koppel. Das holt es sich dann auch, sich langsam und
vorsichtig nähernd. Die ganze Zeit rede ich ihm dabei gut zu. »Du brauchst dich
nicht vor mir zu fürchten, ich will nichts Böses. Ich bin auch ganz lieb.« Das
letzte Stück liegt dann nur ungefähr zwei Meter von mir entfernt und es nähert
sich ihm erst nach langem Zögern. Es scheint ihm aber zu schmecken. Ich frage
mich, warum das arme Tier hier so ganz allein ist, eingesperrt und einsam. Das
tut mir leid. Es sieht auch ziemlich mager aus, bekommt wohl nicht viel zu
fressen. Am Nachmittag gehe ich in den Ort, dort gibt es einen kleinen
Lebensmittelladen, in dem waren wir schon mal. Der Besitzer, der Herr Wilmer,
spricht auch deutsch. Ich frage ihn, ob er etwas altes Brot oder schrumpeliges
Gemüse für ein Pferd hat. Er ist ein freundlicher alter Mann und packt mir
einiges in eine Tüte. Stolz und froh dem Pferdchen etwas bringen zu können,
laufe ich schnell zu ihm. Zu meiner Freude läuft es heute nicht ganz so weit von
mir weg. In einiger Entfernung bleibt es stehen und hebt schnüffelnd den Kopf.
»Ja schau mal, was ich dir Schönes mitgebracht habe«, locke ich es an.
Als Erstes werfe ich ihm etwas Brot hin, das wird
geprüft und angenommen. Da sehe ich in einer Ecke der Koppel einen Eimer stehen,
er ist leer. Mit dem Eimer laufe ich zu den Duschräumen auf dem Campingplatz und
fülle ihn mit Wasser. Den stelle ich in die Koppel hinein und entferne mich
etwas davon. Das Pony hebt witternd die Nase und kommt näher. »Na du Armer, hast
du Durst?« Es steckt den Kopf in den Eimer und schlabbert das Wasser. Danach
macht es einen kleinen Hüpfer und läuft einmal in der Koppel herum. Ich krame in
der Tüte und schaue was ich ihm anbieten kann. Ob es wohl Bananen mag? Zwei
Stück sind in der Tüte, schon etwas schwarz aber noch fest. Damit versuche ich
nun, ihn zu locken. Und das ist ein Volltreffer! Als er die Banane sieht, kommt
er sofort näher. Er ist ein Junge, darauf habe ich vorhin mal geachtet. Nur
knapp außer Reichweite bleibt er stehen und rollt mit den Augen. Das sieht
putzig aus. Ich werfe ihm eine der Bananen zu. Er verschlingt sie gleich gierig.
Oha, die scheint er aber sehr zu mögen. Die andere Banane behalte ich in der
Hand, ich möchte so gern, dass er sie sich von mir holt. Aber er bleibt immer
noch auf Abstand. Ich rede ihm weiter gut zu und endlich nähert er sich ganz
vorsichtig. Als ich ihm die Banane entgegenhalte, macht er einen langen Hals und
nimmt sie aus meiner Hand. Ja genau, das ist toll, ich freue mich total. »Na
siehste, war doch gar nicht so schlimm. Ich will doch dein Freund sein.«
»Wo treibste dir denn die janze Zeit rum?«, will Papa
wissen, als ich zum Campingplatz zurückkomme.
»Ich habe ein kleines Pony entdeckt, ich versuche,
mich mit ihm anzufreunden, aber es ist sehr ängstlich.«
»Mach bloß keen Unsinn, dat Pferd jehört ja irjendwem.
Ick will keen Ärjer ham.«
»Nee nee, ich hab ihm nur Wasser gegeben und altes
Brot. Ich mach schon keinen Ärger.«
Die Erwachsenen verstehen manchmal gar nichts. Was
soll denn daran falsch sein? Am nächsten Morgen will ich gleich nach dem
Frühstück zu ihm. Ich habe mir heimlich zwei Bananen eingesteckt, muss ja keiner
wissen. Ein paar Stücke Zucker nehme ich auch mit, das mögen Pferde wohl, das
habe ich mal in einem Film gesehen. Die Erwachsenen liegen in ihren Liegestühlen
und schmoren in der Sonne. Das ist nichts für mich, das macht mich nur müde. Ich
mache mich auf den Weg zu meinem Pferdchen. Vielleicht sollte ich ihm einen
Namen geben, dann kann ich ihn rufen. Wie nennt man ein Pferd? »Fury« fällt mir
gleich ein, aber das finde ich blöd. Ich will ihn »Lothar« nennen, so hieß ein
Freund, den ich mal für eine kurze Zeit kannte. Der hatte auch so schwarzes
Haar. Den mochte ich gut leiden, aber wir sind dann mal wieder weggezogen.
Als ich diesmal zur Koppel komme, läuft er nicht mehr
weg, er bleibt stehen und schaut mich an. Als Erstes schaue ich in den Eimer,
der ist natürlich leer. Schnell laufe ich los und fülle ihn mit Wasser. Das wird
auch sofort angenommen. Es ist ja auch sehr heiß und es gibt hier keinen
Schatten. Dann rufe ich ihn: »Lothar! Ab heute nenne ich dich Lothar, ok?«
Er schaut mich nur an aber reagiert nicht auf meine
Worte. Als ich dann eine Banane hervorhole, reagiert er sofort. Er bläht seine
Nüstern auf, so heißt die Nase beim Pferd, habe ich im Fernsehen gelernt. Er
kommt ein paar Schritte auf mich zu, bleibt dann aber stehen. »Na komm her zu
mir, Lothar. Ich habe hier was Leckeres für dich.« Er streckt den Kopf in meine
Richtung und schnüffelt, er scheint sehr interessiert zu sein. Zögerlich kommt
er Schritt um Schritt näher. Ich winke mit der Banane, halte sie diesmal aber
nicht ganz so weit von mir weg. Es wäre schön, wenn er sich näher trauen würde.
Seine Liebe zu Bananen scheint dann auch größer zu sein, als seine Scheu vor
mir. Vorsichtig nähert er sich und nimmt mir dann ganz sachte die Banane ab.
Langsam hebe ich meine Hand zu seinem Kopf. Er zuckt nicht zurück, er lässt es
sogar geschehen, dass ich sanft über seine Mähne streiche. Toll! Ich könnte vor
Freude jauchzen, lasse es aber, das würde ihn bestimmt erschrecken. Rasch gebe
ich ihm noch die zweite Banane. Er nimmt sie, dreht dann ab, macht einen kleinen
Hüpfer und gibt ein leises Wiehern von sich. Das höre ich zum ersten Mal. »Ach
Lothar, du bist so ein feines Pferdchen, warum lassen sie dich hier nur so
allein?« Ich rede alles Mögliche mit ihm und nenne ihn möglichst oft beim Namen.
Dann gehe ich zum Laden und frage noch einmal nach Futter für meinen Freund.
»Für welches Pferd soll das denn sein?«, fragt mich Herr Wilmer.
»Da ist ein kleines, schwarzes Pony, da hinten in
einer Koppel.«
»Ach das, ja das gehört dem Bauer Olson. Der sagte mir
mal, dass es sich nicht mit anderen Pferden verträgt. Die haben es wohl
weggebissen.«
»Ja, das hatte erst ganz viel Angst, aber jetzt ist es
besser. Heute durfte ich ihn das erste Mal streicheln. Das war toll!«
Der Herr Wilmer schmunzelt und packt mir erneut einige
Sachen in eine Tüte. »Hier hast du was für deinen Freund, aber gib ihm nicht
alles auf einmal, hörst du? Immer nur ein wenig pro Tag, sonst wird er krank.«
»Ja gut. Vielen Dank Herr Wilmer, Sie sind ein netter
Mann.«
Wieder schmunzelt er. »Ist schon gut, mach ich gerne.
Sag mal, du kennst doch sicher diese kleinen gelben Blumen, Löwenmaul heißen die
wohl bei euch. Die findest du überall auf den Wiesen. Davon kannst du ihm auch
welche geben, die mögen sie und sie sind gesund.«
»Ah, Sie meinen sicher die Butterblumen? Davon gibts
hier genug, das mache ich dann gleich.«
Freudig laufe ich zurück, es gibt auch bald Mittag, da
sollte ich mich sehen lassen. Nach dem Essen legen sich die Eltern ins Zelt und
wollen schlafen, und auf keinen Fall gestört werden! Von mir ganz bestimmt
nicht, ich nehme meine Tüte und mache mich auf den Weg zu Lothar. Unterwegs
sammel ich noch eine Handvoll Butterblumen für ihn. Diesmal kommt er von sich
aus an das Gatter, er läuft nicht mehr vor mir weg. Das finde ich einfach
großartig. Ich halte ihm ein paar Butterblumen auf der flachen Hand hin und er
nimmt sie sanft mit seinen Lippen. Das fühlt sich komisch an, aber gut. Sanft
streichle ich ihn über den Kopf und zause seine Mähne. Er lässt es geschehen,
streckt seinen Kopf zu meiner anderen Hand, zu den restlichen Butterblumen. Der
Tipp von Herrn Wilmer war goldrichtig, die mag er wirklich gerne. Ich gebe sie
ihm dann auch noch. Der Eimer ist schon wieder leer und ich hole schnell neues
Wasser für ihn. Während ich ihm beim Trinken zuschaue, rede ich mit ihm. »Ach
Lothar, du bist auch so ein Armer, die ganze Zeit alleine, nichts zum Spielen,
keine Freunde. Weißt du was, ich kenne das. Ich bin auch viel alleine und habe
keine Freunde. Aber wenigstens bin ich nicht eingesperrt. Na ja, zumindest nicht
immer.« Lothar schaut mich mit seinen großen, braunen Augen aufmerksam an. Da
fallen mir die Zuckerstücke ein. Ich lege zwei auf meine Hand und halte sie ihm
hin. Er nimmt sie sacht mit seinen weichen Lippen. Gleich danach gibt er erneut
dieses leise Wiehern von sich. Ich streichle gerade seinen Kopf, da kommt er auf
einmal näher heran und stupst mich mit seiner Nase an der Schulter. Dann legt er
seinen Kopf darauf und dreht ihn ein wenig hin und her, reibt ihn daran. Ich bin
wie erstarrt, damit habe ich nun gar nicht gerechnet. Mir schießen die Tränen in
die Augen - ich bin so glücklich. Langsam und bedächtig streichle ich seinen
Kopf, es ist ein wunderbarer Augenblick. Dann nimmt er seinen Kopf zurück,
wiehert leise und trabt in der Koppel herum. Ich glaube, wir sind gerade
richtige Freunde geworden. Das macht mich so froh, ich könnte platzen vor
Freude. Am liebsten würde ich es der ganzen Welt erzählen. Aber ich weiß schon,
dass es die Erwachsenen nicht interessieren wird. Meine Schwester ist auch schon
zu erwachsen mit ihren fünfzehn Jahren. Sie will immer sein wie die Großen. Es
soll eine Sache zwischen Lothar und mir sein. Was gehts die Anderen an. Ich
besuche und versorge Lothar jetzt jeden Tag und er hat nun gar keine Scheu mehr
vor mir. Ich darf ihn streicheln und kosen und rede immer ganz zärtlich mit ihm.
Er ist mir total ans Herz gewachsen, ich liebe ihn.
Als ich ihn am nächsten Tag besuchen will, sehe ich
schon von Weitem, dass die Koppel leer ist. Ich bin verzweifelt, wo mag mein
Lothar nur hin sein? Noch nie habe ich gesehen, dass sich irgendjemand um ihn
gekümmert hätte, aber nun ist er fort. Todtraurig kehre ich zum Campingplatz
zurück. Mir ist der ganze Tag verdorben, ich könnte heulen. Mein lieber Freund
ist fort und ich konnte mich nicht einmal von ihm verabschieden. Was ist das nur
für ein Scheißleben? Von den Erwachsenen fällt niemand auf, dass ich den ganzen
Tag nur still in einer Ecke sitze. Ach, die können mich alle mal. Denen ist doch
sowieso alles egal, was mir wichtig ist. Meine Trauer wird langsam zu Wut, ich
möchte irgendwas kaputt machen. Will mir irgendwie Luft verschaffen. Warum
werden mir immer meine Freunde weggenommen? Das ist so ungerecht, das ist so
gemein. Aber wen interessiert das schon? Niemand! Dieser Tag geht sehr
unglücklich zu Ende.
Am Tag darauf will ich einfach nur schauen, ob sich
vielleicht etwas geändert hat - und wirklich - mein Lothar ist wieder da! Sofort
renne ich zu ihm, er begrüßt mich mit einem freudigen Wiehern. Er kommt gleich
ans Gatter und erwartet mich. »Mensch Lothar, wo warst du denn bloß? Ich dachte
schon, ich sehe dich nie mehr. Ich bin ja so froh, dass du da bist.« Er reibt
seinen Kopf an meiner Schulter und wiehert leise. Ich glaube, er ist auch froh,
mich wiederzusehen. Heute ist sogar Wasser in seinem Eimer und Heu liegt in
einer Ecke und irgendeine Streu. Sein Fell ist gebürstet worden, es glänzt jetzt
mehr. »Haben sie dich doch nicht ganz vergessen, was mein Freund? Das ist schön,
das freut mich.«
Lothar ist heute übermütig, er trabt in der Koppel
herum, kommt zu mir, stupst mich an und trabt weiter. Ich verstehe das als
Aufforderung, mit ihm zu spielen. Entschlossen mache ich etwas, das ich bisher
noch nicht getan habe: Ich bücke mich unter dem Gatter hindurch und stehe bei
ihm in der Koppel. Er wiehert und trabt an mir vorbei. Als er das nächste Mal
bei mir vorbeikommt, laufe ich neben ihm her, mit ihm zusammen im Kreis durch
die Koppel. Das macht einen Heidenspaß, aber ich komme recht bald außer Puste,
ich kann nicht mehr. »Ja, schau nur ... du hast es leichter ... mit deinen vier
Beinen«, sage ich japsend und lachend zu ihm. Dann gebe ich ihm die letzten zwei
Zuckerstücke die ich noch in der Hosentasche habe. Ich muss gehen, die Eltern
wollen irgendwo hinfahren, ich sollte schon längst bei ihnen sein. Das gibt
bestimmt wieder mal Ärger, aber das ist mir völlig egal. Heute scheint die Sonne
wieder heller, zumindest für mich.
Es sind ein paar Tage vergangen, jeden Tag war ich bei
Lothar und habe mit ihm gespielt und ihn liebgehabt. In zwei Tagen fahren wir
zurück nach Berlin. Die Schule fängt nächste Woche an. Ich bin jetzt schon
traurig, dass ich Lothar dann nicht mehr besuchen kann, nicht mehr mit ihm
spielen kann. Ihm konnte ich von all meinen Sorgen erzählen, er hat immer
geduldig zugehört. Als ich am Nachmittag zu ihm will, meint mein Vater: »Mach
uns doch mal mit dein neuen Kumpel bekannt. Muss ja nen dollet Pferd sein, wenn
de ständich zu ihm hinrennst.«
Schließlich tauchen wir dann zu viert an der Koppel
auf. Lothar wittert und zieht sich schon etwas zurück. Beruhigend rede ich ihm
zu und er kommt schließlich zu mir. Papa sagt nur abfällig: »Dat is ja man nen
mickriger Gaul. Wejen dem machste so´n Jewese? Ick dachte, dit wär nen richtjet
Reitpferd.«
Ich denke bei mir: «Oh Mann, hätte ich ihm nur nie was
von Lothar erzählt.«
Dann meint er auch noch: »Biste denn schon mal uff ihm
jeritten?«
Nein, bin ich nicht. Ich hatte nur ganz kurz mal daran
gedacht, es dann aber sein lassen. Es schien mir nicht richtig zu sein. Ich
wollte ihm nicht meinen Willen aufzwingen, wollte meinen Freund nicht benutzen.
Es reicht mir, mit ihm zu spielen, neben ihm herlaufen zu können. Seine
liebevolle Zuwendung ist alles, was ich will. Aber das reicht meinem Vater
nicht. Er greift mich unter den Achseln und mit den Worten: »Ick zeich dir mal,
wie man dit macht«, hebt er mich über das Gatter und setzt mich auf Lothars
Rücken. Ich bin nur ein kleiner schmaler Kerl und wiege nicht viel. Aber Lothar
ist doch erschrocken, das merke ich. Ich beuge mich über seinen Hals und
streichle ihn, will ihn beruhigen. Ich kann spüren, wie er zittert, und will
sofort wieder von ihm runter. In dem Augenblick haut ihm mein Vater mit voller
Wucht auf den Hintern, will ihn wohl antreiben. Lothar macht einen erschrockenen
Satz nach vorn und ich falle von seinem Rücken auf den Boden. Das ist nicht so
schlimm, ich tu mir nicht doll weh dabei. Aber ich bin entsetzt, mit welcher
Brutalität mein Vater gegen meinen Freund vorgeht. Laut kreische ich auf: »Was
machst du denn! Der arme Lothar, warum schlägst du ihn?«
Mir schießen die Tränen in die Augen, ich fange laut
an zu heulen. »Du bist so ein fieser, gemeiner Kerl, ich hasse dich!«
»Nu mach ma langsam Bursche, stell dir nich so an
wejen dem blöden Gaul.«
»Das ist kein blöder Gaul, das ist mein Freund. Du
bist blöd.« Gebe ich ihm trotzig und unter Schluchzen zurück.
»Wat sachste? Na warte man Bürschchen, komm du mir mal
nach Hause, dann zeich ick dir jenau wie blöd ick bin.«
Ich will zu Lothar und ihn trösten, doch er weicht vor
mir zurück. Das ist zuviel für mich. Laut heulend laufe ich in die
Dünenlandschaft hinein, will nur weg von diesem schrecklichen Kerl. Will ihn nie
mehr sehen müssen. Es gab vorher schon viele Sachen, für die ich ihn gehasst
habe, aber das heute, ich weiß nicht wie ich das ertragen soll. Immer tiefer
laufe ich in die Dünen hinein, mich ständig umsehend, ob mich dieser Unhold
verfolgt. Aber das ist es ihm wohl nicht wert. Es ist niemand zu sehen. Ich
finde einen alten Strandkorb, der schon an ein paar Stellen beschädigt ist und
schief in der Landschaft steht. Dort kletter ich hinein und kann ihn fast
zuziehen, so bin ich nicht zu sehen. Vom vielen Heulen tut mir jetzt der Hals
weh. Ich hätte gerne was zu trinken. Aber hier gibt es weit und breit nichts
außer Sand und hartem Gras. Ich beschließe abzuhauen, ich will auf keinen Fall
zu diesem fürchterlichen Menschen zurück. Es ist mir egal, was aus mir wird.
Hauptsache ich muss diesen Grobian nie mehr sehen.
Irgendwann muss ich eingeschlafen sein. Als ich wach
werde, friere ich und es ist dunkel. Mein Magen knurrt, wie spät mag es wohl
sein? Ist mir jetzt aber auch egal, ich will jedenfalls nicht zurück, ich bleibe
lieber hier. Nach einiger Zeit höre ich Rufe: »Hansi!« »Haaansi!!«
Das ist die Stimme von meiner Schwester. Ich
verkrieche mich tiefer, bleibe ganz still. Ich will nicht, dass sie mich finden.
Tun sie aber. Als ich durch eine Lücke nach draußen spähe, kann ich die
schwankenden Lichter von mehreren Taschenlampen sehen. Scheiße, den weißen
Strandkorb kann man auch im Dunkeln kaum übersehen. Es dauert dann auch gar
nicht lange, bis jemand den Strandkorb öffnet, hineinleuchtet, mich packt und
nach draußen zerrt. Natürlich ist es mein Vater. Ich fange mir gleich erst mal
eine rechts und links. Dann packt er mich am Arm und zerrt mich hinter sich her.
»Dir werd ick zeijen, einfach wegrennen und wir die halbe Nacht hinterher. So
nich, Freundchen.«
Als wir am Campingplatz ankommen, bekomme ich meine
versprochene Tracht Prügel. Danach schmeißt er mich im Zelt in eine Ecke und
sagt: »Da bleibste bis wir abfahrn, ick will dir draußen nich mehr sehn.«
Ich warte eine Weile, bis ich sicher sein kann, das
alle fest schlafen. Dann krieche ich ganz vorsichtig unter der Zeltwand hindurch
und bin draußen. Schnell laufe ich zu Lothar, ich will mich unbedingt von ihm
verabschieden und sehen, ob es ihm gut geht. Eine Wasserflasche und ein paar
Bananen habe ich mitgenommen. Mein Magen knurrt immer noch, seit dem Mittagessen
habe ich nichts mehr gegessen. Als ich bei der Koppel ankomme, weicht Lothar
zurück. Ich rufe ihn und er nähert sich mir vorsichtig. »Mensch Lothar, sei doch
bitte nicht böse mit mir. Ich kann doch auch nichts dafür. Ich wollte das doch
alles nicht. Bitte sei wieder lieb zu mir, ich bin doch dein Freund.« Das alles
sage ich unter Tränen, meinen geliebten Freund zu verlieren, tut mir mehr weh,
als die Prügel vorhin. Nach einer Weile kommt er näher. Ich setze mich an das
Gatter und lehne mich dagegen. »Weißt du, mein Vater ist ein blöder Idiot und
ein Grobian. Aber ich kann nichts dagegen tun. Ich will ja schon lange weg von
ihm, aber er lässt mich nicht. Was soll ich nur machen? Ich bin so verzweifelt.
Wenn du jetzt auch nicht mehr mein Freund sein willst, habe ich niemand mehr,
dann bin ich wieder ganz allein.«
Das alles erzähle ich ihm, bis ich auf einmal sein
weiches Maul an meiner Schulter fühle. Er stupst mich an und wuselt in meinen
Haaren herum. Ich möchte ihm um den Hals fallen, aber davor weicht er zurück.
»Ist schon ok, ich bleibe hier sitzen, brauchst keine
Angst haben.«
Langsam nähert er sich wieder. »Ich habe hier drei
Bananen, wollen wir uns die teilen? Ich habe einen Bärenhunger, ich kann sie dir
nicht alle geben.«
Ich reiche ihm eine, er nimmt sie sachte an. Dann esse
ich selbst eine, das tut gut. Die letzte teile ich brüderlich und gebe ihm die
Hälfte. Ich erzähle ihm von meinem tristen Leben in Berlin und wie viel lieber
ich bei ihm leben würde. Da wird es auch schon hell und ich muss zurück, bevor
die Alten aufwachen. Ein letztes Mal streichle ich Lothars Kopf, dann laufe ich
blind von Tränen zum Zelt zurück.
Mein Vater ist natürlich schon wach. Ohne ein weiteres
Wort verpasst er mir ein paar saftige Ohrfeigen und schmeißt mich dann auf den
Rücksitz vom Auto. Er verriegelt die Türen und ich kann nicht mehr weg. Unser
Auto ist ein Taxi, da ist alles gesichert, auch die Scheiben gehen nicht runter.
Von diesem Tag an habe ich mich geweigert »Papa« zu
ihm zu sagen, es gab nur noch »Vater«. Auch dafür habe ich mehrmals Prügel
bezogen, aber ich blieb stur. Ich hatte keinen Papa mehr.
***
hp´17