Die Wahl der Mittel
1.
Kurz bevor ich die Tür erreiche, die vom Schulungsraum
direkt ins Treppenhaus führt, bekomme ich plötzlich einen kräftigen Stoß in den
Rücken. Ich muss zwei schnelle Schritte nach vorn machen, um nicht auf die
Schnauze zu fallen. Im gleichen Moment drehe ich mich blitzschnell um – doch da
hat mich Mikis schon am Hals gepackt. Wir sind jetzt im Treppenhaus auf dem
obersten Podest, an meiner linken Hüfte befindet sich ein Stahlrohrgeländer,
dahinter geht es drei Meter hinab zur nächsten Treppe. Mikis steht breitbeinig
vor mir, mit seiner linken Hand hält er meinen Hals umklammert und presst mich
damit an die Wand. Seine rechte Faust hat er bis zur Schulter angezogen und
droht mir, meinen Schädel an der Wand zu zerschmettern. Ich habe Probleme mit
dem Atmen, aber ich nehme alle Details in meiner Umgebung mit totaler Klarheit
wahr. Das selbstsichere Grinsen von Mikis und die feixenden Gesichter von drei
anderen Kerlen, die wohl einen netten Scherz erwarten. „Was bildest du dir
eigentlich ein, wer du hier bist?“, fragt mich der Grieche mit finster drohendem
Gesichtsausdruck. Ich habe mich inzwischen stabil hingestellt, mein Gewicht auf
ein Bein verlagert und das andere halte ich ganz locker bereit.
„Ich werde dir jetzt ganz fürchterlich eine in die
Fresse hauen ...“, sagt er.
Eine Stinkwut kocht in mir hoch, eine alles
verdrängende Gewalttätigkeit ergreift mich ... er hat noch nicht ganz
ausgesprochen, da ziehe ich mit aller Kraft mein rechtes Knie hoch, direkt in
den Schritt dieses arroganten Mistkerls. Im gleichen Augenblick hebel ich seinen
ausgestreckten Arm am Ellenbogen nach unten und gebe ihm dabei einen Stoß nach
links. In hohem Bogen segelt er über das Geländer drei Meter abwärts. Mit wilder
Freude und einem Gefühl des Triumphs höre ich seinen gellenden Schrei – dann den
dumpfen Aufschlag.
Dann nichts mehr.
Der Typ haut so bald niemandem mehr eine in die
Fresse, denke ich. Doch dann sehe ich ihn reglos liegen, sein Kopf liegt in
einem unnatürlich schiefen Winkel und langsam sickert ein feiner Blutfaden aus
seinem Mundwinkel. Selbst ein Laie kann erkennen, dass dieser Mann tot ist.
Genickbruch! „Scheiße!!“, denke ich. „Der Kerl ist hin. Dafür krieg ich locker
noch mal 15 Jahre dazu.“ Und wozu das Ganze …..?
2.
„Ich kann dieses blöde Gelaber einfach nicht mehr
ertragen!“, sage ich laut und ziemlich genervt. Klaus, der Sozialarbeiter, der
versucht etwas Allgemeinbildung an uns zu vermitteln, tut mir echt leid. Dabei
natürlich völlig ignorierend, wo ich mich gerade befinde. Ich sehe nur diesen
armen Kerl da vorne, der sich auf eine nette und menschlich anständige Art um
uns bemüht. Es gibt hier nur niemanden, der Interesse an irgendwelchen
Nettigkeiten hätte.
Ich bin erst seit wenigen Tagen hier im Knast, mir ist
noch nicht bewusst geworden, dass hier niemand in Begriffen wie Anstand,
Akzeptanz oder Toleranz denkt. Feingeistige Betrachtungsweisen sind hier fehl am
Platz. Auch Dankbarkeit ist hier kein Thema und niemand denkt daran. Mikis,
unser schwarz gelockter Super-Macho aus Griechenland der hier das große Wort
führt, denkt wahrscheinlich gar nicht. Warum auch, er hat ja den schwarzen Gurt
in Karate, wie er uns alle immer wieder wissen lässt. Er kann keine Minute seine
große prahlerische Klappe halten, ständig mosert er rum und versucht, Klaus auf
übelste Art fertigzumachen. Auf meine Bemerkung hin fühlt er sich dann auch
gleich angesprochen. „Wen meinst du denn damit? Wer ist hier blöde? Willst du
was auf die Schnauze haben, oder was?“, reagiert er aggressiv.
„Ich hab von dem gesprochen, was hier so erzählt wird,
aber wenn dir der Schuh passt, zieh ihn dir nur an“, entgegne ich ihm.
„Du bist wohl lebensmüde, oder hat dir einer ins Hirn
geschissen? Warte nur bis wir auf dem Hof sind!“
Nun ist also genau die Situation eingetreten, die ich
mir vor meinem Haftantritt schon vorgestellt und befürchtet hatte. Dies ist mein
erster Aufenthalt in einem Knast, aber ich habe ausreichend Erfahrung mit reinen
Männergesellschaften. Ich habe meine Lehre auf dem Bau begonnen und bin dann
später noch zwei Jahre zur See gefahren. Ich weiß also recht genau, wie man
„unter Männern“ Probleme löst. Jetzt habe ich es also in kürzester Zeit
geschafft, mit meinem losen Mundwerk einen Typen zu provozieren, der keine
andere Antwort als Gewalt kennt. In seinem Hirn ist einfach nicht genug Material
um sich anders auszudrücken. Ich habe schon einen recht beachtlichen Kloß im
Hals. Klaus will mir zu Hilfe kommen, indem er sagt: „Es gehört schon Courage
dazu sich hier so klar zu äußern.“
Na danke, ich wünsche mir in diesem Augenblick, ich
hätte etwas weniger Courage gehabt und dafür meine vorlaute Klappe gehalten. Die
hat mich schon öfter in Schwierigkeiten gebracht. Aber da es nun mal passiert
ist, kann ich es auch zu Ende bringen. „Ich finde es einfach Scheiße, dass ihr
versucht, Klaus fertigzumachen. Der Typ bringt uns Kaffee und Kuchen mit, den er
aus seiner eigenen Tasche bezahlt, er versucht uns hier auf jede erdenkliche
Weise entgegenzukommen, und ihr wisst nichts Besseres zu tun als ihn
fertigzumachen und anzupöbeln. Mich kotzt das an!“ Das sage ich zwar sehr
forsch, aber mit klopfendem Herzen. Sofort kommen auch die Kommentare: „Was
glaubst du eigentlich, wo du hier bist?“, „So´ne Scheiße kannste deiner Oma
erzählen!“, „Was macht ein braves Kerlchen wie du hier im Knast?“
Tja, was macht einer wie ich hier im Knast? Da hat er
einen Punkt angesprochen, der mich, und auch andere später, immer wieder
beschäftigt hat. Ich will hier nicht näher auf meine Taten eingehen, die mich
letztlich hier hergebracht haben, das wäre zu komplex. Aber ich betrachte mich
nicht als einen Verbrecher, sondern nur als einen Gesetzesbrecher. Es gibt unter
all den vielen Gesetzen in Deutschland, das eine oder andere, über dessen
Rechtmäßigkeit ich anderer Meinung bin als der Richter. Der warf mir auch
mangelndes Unrechtsbewusstsein vor. Worin ich ihm nur zustimmen konnte. Was ich
tat, war zwar ungesetzlich, aber es hat niemanden geschadet. In meine Handlungen
ist keine andere Person verwickelt gewesen. Das Ganze hat sehr viel mit Gesetz
und sehr wenig mit Vernunft zu tun; nicht wie ich sie verstehe.
Ich kenne nur zwei wirklich sinnvolle Gesetze, das
eine ist der §1 der Straßenverkehrs-Ordnung:
„Jeder Verkehrsteilnehmer (Mensch) hat sich so zu
verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den
Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.“ Das stimmt nicht nur im
Straßenverkehr, sondern lässt sich auf das ganze Leben anwenden. Das andere
kommt aus der Psychologie: „Jeder ist für das, was er tut und sagt selbst
verantwortlich.“
Mehr an Gesetz habe ich in meinem ganzen Leben nicht
benötigt. Ich habe den halben Globus bereist und bin überall gut damit
ausgekommen. Ich war wohl nie das, was man einen braven Bürger nennt, aber ich
war nie darauf aus, anderen Leuten zu schaden. Dass mein Handeln illegal war,
wusste ich. Ich habe gepokert und verloren, ich bin auch bereit die Folgen zu
tragen und habe mich über nichts zu beklagen. Mit dieser Einstellung bin ich
hier aber allein, das weiß ich sehr wohl. Fast alle Knackis, mit denen ich
bisher gesprochen habe, sind der Meinung, dass sie zu Unrecht im Knast sind.
Irgendjemand ist immer dran Schuld. Sorry Leute, für mich ist das einfach nur
Unsinn. Aber nun bin ich hier und muss mich mit diesen Männern, die auf
Widerspruch nur eine Antwort kennen, auseinandersetzen.
Das bringt mich wieder einmal in eine unangenehme
Situation, denn ich habe bis heute keine befriedigende Antwort auf Gewalt
gefunden. Ich weiß sehr wohl, dass ich zur Gewalt fähig bin, ich war schon in
Situationen, in denen ich nur durch rohe Gewalt bestehen konnte. Das führte mich
jedes Mal an eine Grenze, die ich nicht überschreiten mag. Es sei denn mein
Leben hängt davon ab. Ich war eine lange Zeit in Asien und habe mich auch mit
verschiedenen Kampfsportarten beschäftigt, allerdings nur, um herauszufinden,
dass ich kein Kämpfertyp bin, mir fehlt dazu eine gewisse Grundaggressivität.
Ich benutze auch in Notlagen lieber meinen Kopf als meine Fäuste.
Inzwischen ist die Zeit gekommen in der wir wieder in
unsere Zellen zurückmüssen und alles bricht auf. Ich rede noch eine Weile mit
Klaus, auch um Zeit zu gewinnen, denn ich sehe aus dem Augenwinkel, dass sich
Mikis und noch ein paar Andere vorne an der Tür herumdrücken und offensichtlich
auf mich warten.
Puh, ich hab schon ein flaues Gefühl im Magen und
überlege angestrengt, wie ich die drohende Konfrontation vermeiden könnte. Ich
sehe aber keinen gangbaren Weg, hole noch mal tief Luft und mache mich auf den
Weg.
3.
Kurz bevor ich die Tür erreiche, die vom Schulungsraum
direkt ins Treppenhaus führt, bekomme ich plötzlich einen kräftigen Stoß in den
Rücken. Ich muss zwei schnelle Schritte nach vorn machen, um nicht zu fallen. Im
gleichen Moment drehe ich mich blitzschnell um – doch da hat mich Mikis schon am
Hals gepackt. Wir sind jetzt im Treppenhaus auf dem obersten Podest, an meiner
linken Hüfte befindet sich ein Stahlrohrgeländer, in meinem Rücken die kalte
Rauheit der Flurwand. Mikis steht breitbeinig vor mir, mit seiner linken Hand
hält er meinen Hals umklammert und presst mich damit an die Wand. Seine rechte
Faust hat er bis zur Schulter angezogen und droht mir damit, meinen Schädel an
der Wand zu zerschmettern. Ich habe Probleme mit dem Atmen, mühsam schnappe ich
nach Luft, mein Herz rast. Alles was ich wahrnehme, ist Mikis wutverzerrtes
Gesicht direkt vor meinem. „Was bildest du dir eigentlich ein, wer du hier
bist?“, fragt mich der Grieche mit finster drohendem Gesichtsausdruck.
Unterdessen versuche ich, mühsam eine etwas bequemere Stellung zu bekommen, ohne
eine Reaktion zu provozieren.
„Ich werde dir jetzt ganz fürchterlich eine in die
Fresse hauen ...“, sagt er.
Da merke ich, wie sich neben meiner Angst auch eine
Wut in mir aufbaut, ich kann mich nur mühsam zurückhalten, nicht doch irgendeine
blödsinnige Aktion zu starten. In dieser Situation und bei seiner körperlichen
Überlegenheit, müsste ich schon etwas Drastisches tun, und das wäre
unkontrollierbar. Mit einer gewaltigen Willensanstrengung zwinge ich mich dazu,
ruhig zu bleiben und abzuwarten.
„Was hältst du davon?“, will Mikis von mir wissen.
Mir rasen tausend Sachen gleichzeitig durch den Kopf,
ich kann kaum noch klar denken. Aber Mikis hat seinen Griff etwas gelockert und
macht nicht mehr so einen wild entschlossenen Eindruck. Schließlich schaue ich
ihm so ruhig, wie ich kann in die Augen. „Warum solltest du so etwas Dummes
tun?“, frage ich ihn. „Du weißt genauso gut wie ich, dass dir das nur Ärger
einbringt. Du landest im Bunker und kannst nicht mal damit angeben, einen Typen
fertiggemacht zu haben, der mindestens zwanzig Kilo weniger wiegt als du und
auch noch völlig untrainiert ist. Wenn du das irgendwem erzählst, erntest du
bestenfalls Gelächter.“ Mir ist nicht ganz wohl zumute, während ich ihm diesen
Schmu unterschiebe. Aber das Reden hat mir geholfen, meine Fassung
wiederzuerlangen und ich bin inzwischen in der Lage seinen Blick recht ruhig zu
erwidern. Auch Mikis hat sich scheinbar etwas beruhigt, er wirkt längst nicht
mehr so wild entschlossen. Ich habe das Gefühl, er versucht nur noch sein
Gesicht zu wahren. Schließlich brabbelt er noch einiges unverständliches Zeug,
um dann noch ein paar finstere Drohungen für die Zukunft auszustoßen. Er schubst
mich noch mal kräftig gegen die Wand, dreht ab und verschwindet die Treppe
hinab.
Im ersten Augenblick habe ich Mühe mein Gleichgewicht
zu bewahren, nachdem ich so plötzlich meines unfreiwilligen Haltes beraubt
wurde. Ich bin noch einen Moment damit beschäftigt ein unkontrolliertes Zittern
zu unterdrücken, ich hole tief Luft und schaue mich um. Ein paar herumstehende
Gaffer schauen mich merkwürdig an und verziehen sich dann einer nach dem anderen
die Treppe hinunter. Kurz darauf kommt Klaus aus dem Schulungsraum und spricht
mich an: „Na, alles klar bei dir?“
Der ganze Vorfall hat wohl nur wenige Augenblicke
gedauert, wenn es mir auch länger vorkam. Klaus hat davon offensichtlich nichts
mitbekommen. Ich versuche immer noch, meine zitternden Knie unter Kontrolle zu
bekommen und antworte ihm: „Na ja, ich bin noch in einem Stück, viel mehr kann
man nicht erwarten, oder?“ Klaus sieht mich an und weiß wohl nicht so recht, was
er davon halten soll. Mir ist in diesem Moment nicht mehr nach längeren
Gesprächen, ich verabschiede mich von ihm und mache mich auf den Weg in meine
Zelle.
Ich habe danach nie wieder ein Wort mit Mikis
gewechselt, für mich hätte er genausogut tot sein können.
***
hp´94