Der Indien-Express

von hp '16

Annemarie:

Ich fliege nach Indien!
Alles kam ganz plötzlich und ging dann auch ganz schnell. Annemarie kam ins Center und erzählte uns, dass sie Anfang Februar nach Poona fliegen will. Annemarie war früher Botschaftsangestellte, heute ist sie 74 Jahre alt und schwerbehindert. Sie konnte nur ganz kleine Schritte machen und die Füße nur wenige Zentimeter anheben. Alle liebten Annemarie, sie war blitzgescheit und hellwach; sprach drei Fremdsprachen und spielte mehrere Instrumente. Sie konnte natürlich nicht alleine nach Indien fliegen, sie brauchte eine Begleitung. Johanna wollte mit ihr fliegen, aber Johanna war nicht da, niemand wusste wo sie ist. Da kam ich ins Spiel. Seit mindestens einem halben Jahr, dachte ich daran, nach Indien zu fahren. Das Geld dafür hatte ich aber nicht. Zu der Zeit arbeitslos, lag ein Flugticket außerhalb meiner Reichweite. Da kommt Annemarie mit dem Angebot daher, die Kosten für den Flug zu übernehmen. Wenn ich mit ihr zusammen hin und zurück fliege und mich um sie und das Gepäck kümmere. Falls Johanna nicht rechtzeitig auftauchen sollte.

Ein phantastisches Angebot, in meiner Situation. Vier Wochen nach Poona! Ich musste nur noch sehen, dass ich ganz schnell etwas Geld für den Aufenthalt zusammen bekam. Das war leichter gesagt als getan, in meinem damaligen Umfeld, gab es keinen, der Geld genug hatte, um welches verleihen zu können.
Der Abflug wäre schon in zwei Wochen und ich musste mich auch noch gegen Pocken und Cholera impfen lassen; das war Vorschrift im Jahr 1975. Ich war am Rotieren und voller Vorfreude, schnell noch das Nötigste organisieren. Eine geeignete Reisetasche, einen leichten Schlafsack von Woolworth für 25.- Mark. Nur leichtes Gepäck, es wird heiß sein in Indien. Ich habe eh vor, mir in Indien Hosen und Hemden schneidern zu lassen. Von verschiedenen Leuten, konnte ich mir 250.- Mark beschaffen, teils geliehen, teils als Geschenk. Das würde reichen für vier Wochen, das wusste ich von anderen, die bereits da waren.

Es ist Freitag Abend, morgen soll es losgehen!
Wir sitzen im Center beisammen und reden über die bevorstehende Reise und was uns dort alles erwartet. Da geht die Tür auf - und Johanna prustet mit Gepäck beladen herein. „Hallo zusammen!“ schnauft sie. Mir zerplatzen schlagartig sämtliche Träume. Eine bodenlose Enttäuschung macht sich in mir breit. Ich mag Johanna eigentlich, aber in diesem Moment, wünsche ich sie auf den Mond. Sie hat Annemarie natürlich nicht vergessen, war halt nur bis gestern noch in Amsterdam. So was, wie ein Telefon, haben sie auf ihrem Hausboot natürlich nicht. Völlig frustriert, verziehe ich mich nach hinten, in meinen Raum. Nach einer Weile, kam dann Annemarie zu mir. „Na, jetzt biste sehr enttäuscht, nicht wahr?“ „Ja klar, ich hab mich schon so drauf gefreut. Und jetzt das ...“

Du, ich kann deine Enttäuschung sehr gut verstehen. Es tut mir richtig leid für dich.“ Sie überlegt einen Moment, dann sagt sie “Ich mache dir einen Vorschlag, vielleicht kannst du es dann doch noch schaffen. Wie wäre es, wenn ich dir den Hinflug bezahle, und du sorgst für den Rückflug? Ich habe nicht genug Geld, um zwei Extra-Tickets zu bezahlen, aber die Hälfte könnte ich noch dazugeben.“ Das wären dann 700.- Mark für den Rückflug. Woher soll ich die denn auf die Schnelle bekommen? Keine Chance! Mein Frust bleibt mir erst mal erhalten.

Ein Anruf bei meinem Vater, brachte mir nur die Erkenntnis ein, dass ich doch besser nicht hinfliege und den armen Leuten dort, das letzte Bisschen weg esse. Da hatte ich keine Unterstützung zu erwarten. Nun denn, nach einigem Überlegen, komme ich zu dem Schluss, dass nach Indien zu kommen, ja schon mal das Wesentliche ist. Wie und wann ich dann zurück komme, steht doch auf einem ganz anderen Blatt. Notfalls fahre ich mit Botschaftshilfe über Land zurück. Die Möglichkeit bleibt mir immer noch. Also, was solls! Leben ist jetzt und hier und heute! Wollen wir nicht den Moment leben? Ohne Angst vor der Zukunft, ganz im Hier und Jetzt sein? Ich bin gesund und fit, was soll passieren, was ich nicht irgendwie handeln kann? Zu jedem Abenteuer bereit, beschließe ich, dass ein Hinflug-Ticket eine wunderbare Sache ist. Indien ich komme!

Am nächsten Tag, trafen wir uns alle auf dem Flughafen Tempelhof, am Air-India Schalter. Annemarie kaufte noch schnell das Ticket für mich, dann konnten wir einchecken. Außer ihr, Johanna und mir, war noch Murti mit dabei, ein anderer Sannyasin. Der Jumbo-Jet war nur etwa zur Hälfte besetzt, wir hatten alle ausreichend Platz. Annemarie zu versorgen, war sehr einfach. Sie war ungefähr 1,50 Meter groß und wog nicht mehr als 40 Kilo. Man konnte sie einfach unter die Achseln nehmen und eine Stufe hochheben, die sie alleine nicht bewältigen konnte. Nach einer Zwischenlandung in Dubai, ging es dann die Nacht durch nach Bombay, wo wir morgens um 8 Uhr ankamen.

Als ich die Gangway betrat, schlug mir die Hitze wie ein feuchtes Handtuch ins Gesicht und mir brach sofort der Schweiß aus allen Poren. „Oh ja, dass ist es!“ Ich liebte die Tropen, seit ich sie kannte. Ich leide nicht unter der Hitze, ich genieße sie! Normalerweise, neige ich auch überhaupt nicht zum Schwitzen, nur der Übergang vom klimatisierten Flugzeug, hatte das verursacht. Nachdem wir das Gepäck hatten und die Passkontrolle hinter uns, besorgten wir ein Taxi. „You want Taxi, Sir?“ „Welcome to India!“ Wir wollten eins und ließen uns in die Innenstadt zur Dadar-Station fahren. Dort fuhren Sammel-Taxen, die lange Strecken fuhren. So gab es auch welche nach Poona. Es war eine lange Fahrt vom Flughafen. Rechts und links breiter Straßen, sah man die erbärmlichen Behausungen von Ghettos entlang der Strecke. In Indien herrscht Linksverkehr, das war auch erst mal gewöhnungsbedürftig. Genauso wie indische Taxifahrer! Unaufhörlich plappernd und gestikulierend, jagte er in halsbrecherischer Geschwindigkeit durch die Kurven. Dabei unablässig hupend und roten Saft zum Fenster hinaus spuckend, schimpfte er auf alle, und besonders auf die Motorrikschas. Vielfältige Gerüche strömten durch die offenen Fenster, Wärme umgab mich wie in einer Badewanne; ich war glücklich!

In Dadar-Station angekommen, suchten wir nach einem Taxi, das uns die knapp 200 Kilometer, nach Poona bringen würde. Bei einem, fiel mir etwas ins Auge, ich zeigte es Johanna. „Sieh dir mal die hinteren Reifen von dem Taxi da an, blank wie ein Kinderpopo.“ „Oh ja, sehr vertrauenerweckend.“ meinte sie nur. Wir waren uns dann schnell mit einem Fahrer einig, für 120.- Rupien, würde er uns nach Poona fahren. Das waren rund 40.- DM für vier Personen, aus unserer Sicht ein fairer Preis. Ab ging die wilde Fahrt, raus aus Bombay, immer in Kurven bergauf. Bombay liegt in einem Talkessel, direkt am Meer. Umso höher wir kamen, desto besser konnte man diesen Moloch von Stadt überblicken. Es war ein gigantischer Anblick, eine Stadt wie ein Flickenteppich, mit tief hängenden Wolken darüber. Die Luft war schwül dort unten, sie wurde immer besser, mit jedem Meter, den wir an Höhe gewannen.

Um in Indien am Straßenverkehr teilzunehmen, bedarf es sehr starker Nerven. Am Besten, man lässt sie sich vorher entfernen. Unser Fahrer, erwies sich als begeisterter Sänger. Dazu drehte er sein Autoradio voll auf, um dann noch lauter mitzusingen. Für mich klang das eher nach schwerer Diphtherie als nach Gesang. Es gab regen Verkehr und wenn unser halskranker Caruso, grade mal nicht sang, dann fluchte er. Ein klein wenig beunruhigend, fand ich es schon, dass die sogenannten Straßen, keinerlei Begrenzung, so was wie eine Leitplanke hatten. Vor allem, als wir in gebirgiges Gebiet kamen und wir seitlich ziemlich tief hinabsehen konnten. Wir vertrauten wohl alle gerade sehr auf unser hoffentlich positives Karma. Für mich schien es die richtige Zeit zu sein, einen indientauglichen Fatalismus auszubilden. Nur der Feigling stirbt tausend Tode. Ich beschließe einfach, dass meine Zeit noch lange nicht gekommen ist, ergo kann mir überhaupt nichts passieren. So mental entspannt, genieße ich die Fahrt und schaue mir das Land an.

Wir hatten knapp die Hälfte der Strecke hinter uns, als es einen Knall gab und es einen Schlag tat. Einer der Hinterreifen war geplatzt. Reifenwechsel und Pinkelpause. Glücklicherweise, waren wir kurz vor einem kleinen Ort, als das passiert. Die letzten 200 Meter, fuhren wir langsam humpelnd in den Ort ein. Dort gab es einen Chai-Shop, unverzichtbar für Indien-Reisende. Wir versorgten uns alle mit Erfrischungen. Unser Fahrer holte einen Ersatzreifen aus dem Kofferraum. Dazu musste er unser gesamtes Gepäck ausladen. Was dann zum Vorschein kam, sah nicht so aus, als würde es noch 100 Meter aushalten, geschweige denn 100 Kilometer. Der Fahrer grinste nur, sang fröhlich vor sich hin und wechselte den Reifen.

Annemarie, die wir erst vorne auf den Beifahrersitz gesetzt hatten, wollte dann doch lieber nach hinten. Ich tauschte gerne mit ihr, auch um den Preis, dem „Gesang“ nun noch näher zu sein. Das hatte aber den Vorteil, dass ich meine Nase, wie ein Hund, aus dem Fenster halten konnte. Meine langen Haare flatterten im Wind und ich genoss einfach dieses Gefühl von Freiheit. Die heiße Sonne auf meiner Haut, der neue Geruch von Allem, selbst der Staub, waren mir willkommen. Die Anderen stöhnten, ich jubelte, wenn auch mehr innerlich. Annemarie wirkte trotz ihres Alters noch recht munter, wenn auch etwas erschöpft. Die beiden anderen hingen komplett in den Seilen. Johanna war es ständig schlecht und sie hatte Kopfschmerzen.
Murti, hatte seine klapprigen 1,80 fein säuberlich in der Ecke zusammengefaltet. Er schaffte es immerhin, die meiste Zeit zu schlafen, was auch schon eine Leistung war. Ich traute es mich kaum zu sagen, aber mir ging es prächtig!

   

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